Ein Mann mit zwei Seiten

von Petra Seidemann-Matschulla - 12.04.2021

1993 habe ich das erste Mal an einem Familientreffen meiner amerikanischen Seidemänner und -frauen teilgenommen. Es war ein überwältigendes Erlebnis, plötzlich etwa 600 Verwandten, so viele nahmen laut Liste teil, gegenüberzustehen. Bei diesem Treffen erhielt ich eine Einladung von Judy Piaro und Ruth Kertscher, verbunden mit der Bitte, ich solle mir einen Schwung alter Bücher ansehen, die sie in einer Truhe gefunden hätten. Gern nahm ich die Einladung an und mit Spannung öffnete ich besagte Truhe. Ich blickte auf eine Sammlung von "Mittheilungen von der Geschichts- und alterthumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes" der Jahre 1850 - 1870, aber auch andere Bücher wie zum Beispiel ein "Lehrbuch der Naturgeschichte für Schulen und zum Selbstunterricht" aus dem Jahr 1828. Wieso waren diese Bücher einem Menschen so wichtig, dass er sie bei seiner Auswanderung in ein unbekanntes Land mitnahm?

Christian Kertscher wurde am 21. Oktober 1816 in Hartha geboren und heiratete 1839 Justine Reuter aus Oberkossa. Offensichtlich aufgrund seiner Tätigkeit als Maurer kam er mit Ausgrabungen in Kontakt. 1846 übersandte er alte Scherben an die Geschichts- und alterthumsforschende Gesellschaft des Osterlandes, 1849 wurde er dort Mitglied.

In den nächsten Jahren entdeckte er zahlreiche Hünengräber, fand auf dem Dachboden der Kirche in Braunshain einen alten Altarschrein, führte teilweise die Kirchenbücher, als die Pfarrstelle unbesetzt war, war Ortchronist und Kirchenältester und beschäftigte sich mit Mundartforschung. Er war offensichtlich ein belesener Mann. Doch 1865 kam es zu einem Bruch in seinem Leben. In der Chronik vermerkt der Pfarrer: [Ende Dezember 1865] „brannte der Maurergeselle Christian Kertscher in Hartha ab“.

Es kam zu üblen Verleumdungen, es wurde getuschelt, dass er das Feuer selbst gelegt habe, Vorwürfe und Vermutungen, die Christian Kertscher tief getroffen haben. Soweit ich das bis jetzt feststellen konnte, waren die Vermutungen haltlos und die polizeiliche Untersuchung wurde ohne Ergebnis abgeschlossen. Doch dieses Erlebnis hat Christian Kertscher verändert.  

Im Oktober 1867 findet man seinen Namen auf der Liste des Schiffs Therese von Bremen nach Baltimore. Von dort ging es Richtung Farminton/West Bend, wo eine Verwandte namens Sophie Kertscher mit einem Mitglied meiner Familie verheiratet war.

Im Juni 1868 erschien eine Anzeige, dass der unmündige Emil Ehrenfried Kertscher und seine Schwester Emilie Eleonore gedenken, nach Amerika auszuwandern. Im Juli 1868 ist es soweit. Fünf Monate später folgen seine Kinder Henriette, Ida und Friedrich. Anscheinend wollte Christian Kertscher ursprünglich zurückkehren, denn seine Frau blieb ja zunächst mit den weiteren Kindern in Deutschland und seine Sammlung alter Akten, Urkunden und Ergebnisse seiner Ausgrabungen übergab er der Gesellschaft zur Verwahrung. Auch sein Haus blieb in seinem Eigentum. Doch im Verlauf des Jahres 1869 verkaufte er sein Haus an die Familie Bechstedt und seine Sammlung schenkte er der Gesellschaft des Osterlandes.

An seinem neuen Wohnort war als Maurermeister sehr gefragt und er soll insgesamt am Bau von 15 Kirchen beteiligt gewesen sein. Doch glücklich wurde er in Amerika nicht. Die Familie beschreibt ihn als exzentrischen, aufbrausenden und ungerechten Mann. Im Juli 1882 vergiftete er sich.

Petra Seidemann-Matschulla

AMF-Vorstand, SchatzmeisterinBlog-Redaktion

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